Montag, 5. Februar 2024

Imperium


Ich lese Ryszard Kapuścińskis „Imperium“ (1993). Und mache mir so meine Gedanken. Über Imperien. 

Kapuściński meint natürlich das sowjetische Imperium. Doch die UdSSR war nur die Fortsetzung des russischen Imperiums. Dessen Prinzip war das aller klassischen Imperien: Ein hegemoniales Volk (die Russen) erobert und beherrscht andere, kleinere, schwächere Völker. 

Das russische Imperium gründet sich zunächst – wie das osmanische, das spanische und das britische – auf Aggression, Terror, Angst und Zwang. Die unterworfenen Völker lieben die Russen nicht. Aber sie fürchten sie. Und fügen sich zunächst widerwillig, dann gewohnheitsmäßig in eine Pax Russica. Manche profitieren mehr, andere weniger, doch alle müssen sich wohl oder übel in die neuen Realitäten fügen. Das Leben geht weiter.

Währenddessen tut das Imperium das, was ein Imperium tun muss: Es expandiert. Oder versucht es zumindest. Und bekommt schon Mitte des 19. Jahrhunderts seine Grenzen aufgezeigt: Von den großen europäischen Nationen, die das Osmanische Reich retten und die russische Eroberung Konstantinopels verhindern. Frankreich und England, zu diesem Zeitpunkt selbst Imperien, bewahren ein altes, in sich morsches Imperium, um den Aufstieg eines Rivalen zu bremsen. Der zweite Dämpfer kommt fünfzig Jahre später in Fernost: Die Japaner besiegen die Russen bei Tsuhima. Von da ab befindet sich das Imperium im Niedergang – weil es nicht mehr wachsen kann.

Mit dem desaströsen Ausgang des Ersten Weltkrieges und der Oktoberrevolution stolpert das russische Imperium zunächst in den freien Fall. Die Bolschewiki lehnen den aggressiven russischen Nationalismus und Imperialismus ebenso ab wie den Panslawismus und die Orthodoxie. An ihre Stelle treten der proletarische Internationalismus und die marxistisch-leninistische Ersatzreligion. Im Bürgerkrieg bekämpfen die Bolschewiki jene, die das alte Imperium retten und wiederherstellen wollen. Sie bekämpfen auch die ausländischen Nationen, die den alten Imperialisten mit Waffen, Geld und Truppen zur Seite stehen. Sie bekämpfen die Nationalismen, die sich aus den Trümmern des Imperiums erheben. Sie schlagen die Polen zurück, sie zerstören die Ukraine. Und sie bekämpfen anarchistische und sonstige Abweichler und Sektierer. Und sie versuchen sogar, wie das alte Imperium auch, zu expandieren. Sie nennen es "Weltrevolution". Doch die misslingt.

Nach ihrem Sieg errichten die Bolschewiki ein neues Imperium auf dem Gebiet des alten. Dem Namen nach eine Föderation, eine auf freiwillige Mitgliedschaft beruhende Vielvölkerfamilie unter dem roten Banner der Revolution, tatsächlich jedoch eine Fortsetzung des zentralistischen Imperiums der Zarenzeit. Eine wirkliche Dezentralisierung findet nicht statt. Und auf die Phase der Reexpansion folgt die Phase der Repression. Sie fordert vielleicht ebenso viele Opfer wie der Bürgerkrieg. 

Die exzessive Gewalt nach innen, gegen seine eigenen Untertanen, unterscheidet das sowjetische von anderen Imperien. Ob Römer, Mongolen, Spanier, Osmanen oder Briten: Nach der blutigen Eroberung folgte stets die Konsolidierung der Herrschaft, meist über die Teilhabe und Kooperation lokaler Eliten. Das nannte sich dann Pax Romana, Pax Mongolica, Pax Hispanica etc. Dabei genügte meist die Androhung von Gewalt. Denn niemand schlachtet die Gans, die ihm goldene Eier legen soll.

Nicht so in der UdSSR. Hier schien die Gewalt sich selbst zu genügen und immer wieder zu reproduzieren. Natürlich gab es auch „rationale“ Beweggründe: die Ausschaltung der Opposition durch Terror und die Erschließung des riesigen Landes durch Sklavenarbeit. Beides war bereits im russischen Imperium angelegt. Aber Stalin setzte auch hier vollkommen neue Maßstäbe. Den Stalinismus der Dreißigerjahre als Pax Sovietica zu bezeichnen, wäre wahnwitzig.

Im Zweiten Weltkrieg erhält das Imperium Gelegenheit, sich nicht nur zu behaupten, sondern erneut zu wachsen. Es expandiert. Erobert einen Cordon Sanitaire, einen Ring neuer Satelliten. Auch nach 1945 gibt es noch Gewalt, doch die stalinschen Exzesse sind Vergangenheit. Die Zeit von 1945 bis 1990 kann vielleicht wirklich als Pax Sovietica bezeichnet werden. Und doch ist sie auch, wie bei allen anderen Imperien, eine Phase des Niedergangs. Das Imperium ist nicht mehr in der Lage zu wachsen. Und daran zerbricht es schließlich. 

Zuerst sagen sich die äußeren Satelliten los, dann die inneren. Jahrzehntelang unterdrückte Nationalismen steigen plötzlich wie Geister aus der Flasche. Neue Staaten entstehen. Keine besonders schönen Staaten. In vielen regieren Autokraten, in anderen (wie der Ukraine) ziehen sogenannte Oligarchen die Fäden. Kaum unabhängig geworden, führen Armenier und Aserbaidschaner Krieg gegeneinander. Aber auch im Rest des Imperiums – das jetzt Russische Föderation heißt – brodelt es. Besonders bei den Tschetschenen, die so gern kämpfen. Das Imperium reagiert wie üblich mit Gewalt. Eine neue Phase der Konsolidierung, der inneren Reexpansion verhindert den totalen Zerfall des Imperiums.

Irgendwann ist diese Phase beendet. Was danach folgt, ist eine Phase erneuter Expansion. Denn: Das Imperium muss wachsen, sonst stirbt es früher oder später. So erging es allen früheren, so wird es allen späteren Imperien ergehen. Der Imperator, eine Art Hobbyhistoriker, weiß das. Die Frage ist: Wissen es auch seine Untertanen? 

Kapuściński sagt, dass den Russen das Imperium ebenso im Blut steckt wie die Leidensbereitschaft, der Fatalismus und die Liebe zum Zaren. Keine guten Aussichten also für eine Revolution von unten.

Was käme nach einem russischen Imperium? Eine wirkliche russische Nation? Andere Imperien sind wieder zu Nationen zurechtgeschrumpft: die Briten, die Spanier, die Franzosen, die Portugiesen. Auch die Türken, obwohl dafür 1,5 Millionen Armenier sterben mussten und die Kurden sich noch immer nicht als Teil dieser neuen Nation fühlen (die im übrigen nun dem alten Imperium  wieder nachtrauert).

Könnte das auch den Russen gelingen? Vielleicht. Doch wo fängt die russische Nation an, wo hört sie auf? Wer gehört dazu, wer nicht? Das Imperium hat die Völker ja nicht nur unterdrückt und beherrscht, es hat sie auch vermischt, ohne sie zu einem wirklichen neuen Volk zu formen. Die Trennlinien, auch das macht  Kapuściński in seinem Buch klar, verlaufen quer durch die Familien. Wer ist ein „reiner“ Russe, Ukrainer, Usbeke, Turkmene, Ossetier usw.? 

Die vermeintliche Reinheit eines Volkes bewahren oder wiederherstellen zu wollen, ist mindestens ebenso gefährlich wie die Eroberung, Bewahrung oder Wiederherstellung eines Imperiums. Keiner weiß das so gut wie wir Deutschen.

Ryszard Kapuściński, Imperium: Sowjetische Streifzüge, aus dem Polnischen von Martin Pollack, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 1993.

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