Dienstag, 4. Juni 2024

Propaganda und Pessoa


Gestern wieder einen relativ detaillierten Frontbericht aus dem Raum Charkiw gelesen. Die Karten erinnern wie immer an den Ersten oder Zweiten Weltkrieg. Nebenbei erfahren, dass ein ukrainischer Frontabschnitt vom "Russischen Freiwilligenkorps" (RDK) unter dem Kommando des russischen Rechtsextremisten und Hooligans Denis Kapustin, alias Denis Nikitin, gehalten wird. Ebenfalls beim RDK dabei: Alexei Lewkin, Gründer der "Wotanjugend", Organisator des Asgardsrei Festival für National Socialist Black Metal (NSBM) und Sänger der NSBM-Band M8l8th (steht wohl für „Heil Hitler“). Nikitins erklärtes Ziel ist die Zerschlagung des russischen Rumpfimperiums und die Gründung eines reinrassig russischen Nachfolgestaates.

Der Autor des Artikels weist vorsichtig darauf hin, dass das Engagement dieser Einheit, auf deren Unterstützung die Ukraine aufgrund der angespannten militärischen Lage leider nicht verzichten könne, die ukrainische Position im "Informationskrieg" erschwere, weil sie bedauerlicherweise das putinsche "Neonazi-Narrativ" bediene.

Bleibt mir nur der Rückgriff auf Fernando Pessoas "Buch der Unruhe". Darin attestiert sich der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares

"eine tiefe, ekelerregende Verachtung für all jene, die für die Menschheit arbeiten, für all jene, die sich für das Vaterland schlagen und ihr Leben für den Fortbestand der Zivilisation geben" und "für jene, die nicht erken­nen, daß die einzige Wirklichkeit die eigene Seele ist und alles übrige - die Außenwelt und die anderen Menschen - ein unäs­thetischer Alp, hervorgerufen durch eine Verdauungsstörung des Geistes, wie sie sich in Träumen äußert." 

Er fährt fort: 

"Mein  Widerwille gegen jede Anstrengung  wird angesichts jeglicher Form unmäßiger Anstrengung zu einem fast gestiku­lierenden Entsetzen. Der Krieg, die produktive, entschlossene Arbeit, die Unterstützung anderer ... all das scheint mir nur mehr das Produkt einer Schamlosigkeit zu sein, [...] Und angesichts der höchsten Wirklichkeit meiner Seele schmeckt mir alles Nützliche und Äußerliche, verglichen mit der unumschränkten, reinen Größe meiner lebendigsten und häufigsten Träume, frivol und banal. Sie sind für mich weit wirklicher."

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2014, S. 43f.

Illustration nach einem Foto von Fernando Pessoa von waldryano via pixabay


Was macht eigentlich ... das Kosovo




Beliebter Steinerscher Zeitvertreib vor dem Schlafengehen: Flaggen raten auf Seterra. Eine der, nun ja, merkwürdigsten: Die Flagge des Kosovo. Offensichtlich inspiriert von der EU-Flagge, wobei die fünf Sterne hier für die Volksgruppen dieses merkwürdigen Gebildes stehen, das nicht zuletzt durch NATO-Bombardements zustande kam und von vielen Ländern der Erde bis heute nicht als Staat anerkannt wird. 

Gipfel der Phantasielosigkeit: Der in die Flagge integrierte Umriss des Balkanzwergs, dessen Fläche etwa zwei Dritteln des Freistaats Thüringen entspricht.

Was wurde in den 25 Jahren seit der Gründung erreicht? Eine kurze Recherche ergab Folgendes:

- eine der ärmsten, wenn nicht die ärmste Region Europas, trotz hoher westlicher Transferleistungen
- wichtiger Drogenumschlagplatz und Zentrum der organisierten Kriminalität
- Politik und organisiertes Verbrechen befruchten sich gegenseitig
- hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter der Jugend
- hohe Zahl ausreisewilliger Kosovaren (Asylbewerber in spe)
- Nordkosovo nicht unter Kontrolle der Zentralregierung
- Angst der serbischen Minderheit vor Progromen
- privater (illegaler) Waffenbesitz weit verbreitet
- noch immer 4.443 NATO-Soldaten im Land
- für Europa ungewöhnlich hohe Zahl von Analphabeten

Fazit: Es kann nur besser werden. Wie wär's z. B. mit einem EU-Beitritt? Im Juni 2000 wurde dem Kosovo durch den Europäischen Rat der Status eines „potenziellen Beitrittskandidaten“ zugesprochen. Am 15. Juni 2022 stellte Kosovo offiziell einen Beitrittsantrag. Seit dem 1. Januar 2024 können Kosovaren bis zu 90 Tage visafrei in den Schengenraum reisen. 

Es geht also voran.

Montag, 3. Juni 2024

Vielleicht-Taschen


Bei der Lektüre von Frederick Forsythes Thriller "Des Teufels Alternative" (1979) stoße ich auf folgende Passage:

Beide Männer trugen Aktentaschen, wie sie alle sowjetischen Männer zu tragen scheinen. Diese Taschen enthalten keineswegs Akten, sondern sind das männliche Gegenstück zu den „Vielleicht-Taschen“, den Einkaufsnetzen der sowjetischen Frauen. Diese Taschen verdanken ihren Namen der von jedem Sowjetbürger gehegten Hoffnung, auf einen Gebrauchsartikel zu stoßen, vor dem sich noch keine Schlange gebildet hat oder der noch nicht am Ausgehen ist.

Weitere Recherchen führen mich auf die Seite von "Russia Beyond". Dort erfahre ich den russischen Namen der "Vielleicht-Tasche": Awoska (авоська). Und lerne, dass man das nicht so einfach mit "vielleicht" übersetzen kann. Eher mit „auf gut Glück“ oder „mit etwas Glück“. Ein weiterer Fall von Lost in Translation, wie es scheint.

In der DDR, wo ähnliche Einkaufsnetze ebenfalls kursierten, war die sowjetische Bezeichnung meines Wissens unbekannt. Was nicht weiter erstaunlich ist, denn den Mangel, auf den die Netze zurückgingen, gab es offiziell ja gar nicht.

Wie gravierend er in der Sowjetunion tatsächlich war und welche absurden Folgen er hatte, verdeutlicht ein Auszug aus Hedrick Smiths Bestseller "Die Russen" aus dem Jahr 1976, dessen Lektüre ich ebenfalls sehr empfehle. 

Vieles darin wird auch dem Ex-DDR-Bürger bekannt vorkommen, obwohl die UdSSR – das wird schnell deutlich – auch im Hinblick auf Mangel, Korruption und Schwarzhandel ihren Satelliten weit voraus war.

Das obige Bild soll laut KI-Bildgenerator Midjourney übrigens ein Lebensmittelgeschäft im Moskau der Siebzigerjahre darstellen. Von dem darin suggerierten Warenangebot konnten sowjetische Konsumenten allerdings seinerzeit nur träumen. Was einmal mehr die vorläufig noch sehr engen Grenzen der sogenannten künstlichen Intelligenz aufzeigt.

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